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Das Problem der überlangen Verfahrensdauer im demokratischen Rechtsstaat

ist ein wissenschaftliches Projekt in Zusammenarbeit mit der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit in Warschau und dem Institut der Rechtswissenschaften in Warschau.


I. Einführung  und Problemstellung

Schon vor fast 200 Jahren, im Jahre 1817 schrieb Anselm von Feuerbach (Die hohe Würde des Richteramtes, 2. Auflage 1948, Frankfurt am Main, S. 9): „Als die erste Pflicht, welche die Gerechtigkeit ihren Pflegern auferlegt, achte ich die gründliche reife Überlegung, welche dem Gewissen für die Wahrheit und Rechtlichkeit der Entscheidung bürgt. Als zweite Pflicht achte ich, dass der Rechtsuchende sein Recht, soviel wie möglich, in der kürzesten Zeit erlange. Ein verspäteter Rechtsgewinn ist öfters so schlimm, oft verderblicher als ein zeitiger Rechtsverlust“.

Diese Feststellung hat nie an Aktualität verloren. Die immer komplexere Rechtswirklichkeit, das steigende Bildungsniveau der Bevölkerung, die rege Entwicklung des Wirtschaftsverkehrs und nicht zuletzt im Falle von Deutschland und Polen der enorme Einfluss des EU-Rechts haben zu einer Steigerung der Anzahl der Rechtsstreitigkeiten geführt. Gab es im Jahre 2000 - 258 059 neue Klagen bei den Sozialgerichten, waren es 10 Jahre später schon 422 214 neue Klagen, gab es im Jahre 2000 - 524 845 neue familienrechtliche Verfahren vor den Amtsgerichten, stieg ihre Anzahl im Jahre 2010 auf 692.2981. Besonders ersichtlich ist die Steigerung der Belastung der Gerichte in Polen. So haben die polnischen ordentlichen Gerichte (zu denen auch Kammern für Arbeits- und Sozialversicherungssachen zählen) im Jahre 2001 insgesamt 6.738.395 Rechtssachen2 erledigt, im Jahre 2010 waren es bereits 12.791.322 Rechtssachen3. Diese Steigerung hatte auch ihren Grund in der Übernahme zahlreicher neuer Aufgaben durch die Gerichte aufgrund der Regelungen der polnischen Verfassung. Hinzu kommt die Übernahme der Rechtsprechungstätigkeit auf dem Gebiet des Übertretungs- und Finanzübertretungsrechts4.

Das Recht auf Entscheidung in angemessener Frist hat seine normative Verankerung im Art. 45 Abs. 1 der polnischen Verfassung und im Art. 19 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes5 gefunden, jenen Normen, die das Recht auf wirksamen Rechtschutz verankern. Die steigende Zahl von Rechtssachen hat dazu geführt, dass die durchschnittliche Dauer des statistisch durchschnittlichen Verfahrens gestiegen ist. Dies ist nicht nur eine in Deutschland und Polen in der Bevölkerung verbreitete Behauptung, sondern eine durch Rechtsprechung des EGMR bestätigte Tatsache. Art. 6 EMRK, der sowohl in Polen als auch in Deutschland geltendes Recht darstellt, sieht in Straf- und Zivilsachen6 vor, dass das gerichtliche Verfahren „innerhalb angemessener Frist“ durchgeführt wird. Der EGMR hat in mehreren Urteilen die Dauer der beurteilten Verfahren stark kritisiert. Grundlegend war das Urteil der Großen Kammer vom 26. Oktober 2000 in der Sache Kudła gegen Polen (Beschwerde Nr. 30210/96), wo der EGMR nicht nur eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt hat, sondern auch die Verletzung des Art. 13 EMRK, weil der Beschwerdeführer über keinerlei innerstaatliches Rechtsmittel verfügte, mit dem er sein Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend machen konnte. Die Reaktion des Gesetzgebers war der Erlass eines Sondergesetzes vom 17. Juni 2004, das eine Kombination von präventiven und kompensatorischen Elemente beinhaltet, wobei die Klage nur innerhalb eines noch anhängigen Verfahrens erhoben werden kann7. Die Rechtsprechung zu diesem Gesetz wurde jedoch vom EGMR als zu formalistisch eingestuft8. Die Entschädigungssummen waren oftmals auch sehr niedrig9. Dies führte dazu, dass die Zahl der Beschwerden vor dem EGMR weiterhin hoch blieb. Die Folge war ein Piloturteil vom 7. Juli 2015 in der Sache Rutkowski und andere gegen Polen, Beschwerde-Nrn. 72287/10, 13927/11, 46187/11, in der der Gerichtshof stellvertretend für 596 weitere Beschwerden einen Konventionsverstoß wegen des Fehlens eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen überlange Gerichtsverfahren festgestellt und betont hat, dass die Dauer der Gerichtsverfahren in Polen weiterhin ein sog. „systemisches Problem“ darstellt.

Der EGMR befasste sich auch mit mehreren Fällen, die die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 13 EMRK durch überlange Verfahrensdauer und mangelnde Rechtschutzmöglichkeiten durch Deutschland betrafen. Dazu zählt insb. das Urteil vom 8. Juni 2006 in der Sache Sürmeli gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 75529/01. Am 2. September 2010 sah sich der EGMR dazu veranlasst, im Urteil in der Sache Rumpf gegen Deutschland, Beschwerde-Nr. 46344/06, ein strukturelles Defizit festzustellen und der Bundesrepublik Deutschland ein Jahr zur Einführung eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs zu geben. Der EGMR hat diesem Urteil den Charakter eines Pilotverfahrens zugesprochen und ein „systemisches Problem“ festgestellt. Der Gesetzgeber hat daraufhin das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011 verabschiedet10. Das Gesetz soll das Rechtsschutzproblem bei überlangen Gerichtsverfahren abschließend regeln11. Der EGMR hat im Urteil vom 29. Mai 2012, in der Sache Taron gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 53126/07, das neue Gesetz mit vorsichtigem Optimismus begrüßt: „In Anbetracht dieser Merkmale erkennt das Gericht an, dass das Rechtsschutzgesetz verabschiedet wurde, um das Problem der überlangen Dauer innerstaatlicher Verfahren in wirksamer und sinnvoller Weise unter Berücksichtigung der Anforderungen der Konvention anzugehen. Es trifft zu, dass die innerstaatlichen Gerichte nicht in der Lage gewesen sind, in den wenigen Monaten seit seinem Inkrafttreten eine Rechtsprechung zu entwickeln. Der Gerichtshof sieht zu diesem Zeitpunkt jedoch keinen Grund für die Annahme, der neue Rechtsbehelf werde dem Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit bieten, angemessene und hinreichende Entschädigung für seine berechtigten Klagen zu erhalten, oder ihm keine hinreichende Erfolgsaussichten bieten.“ Seit dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes am 3. Dezember 2011 sind über 4 Jahre vergangen. Es ist daher möglich, die Wirksamkeit der eingeführten Änderungen zu beurteilen. Die deutschen und polnischen Regelungen im dargestellten Bereich unterscheiden sich voneinander erheblich. Es fehlt z.B. im polnischen Modell der Bekämpfung überlanger Verfahrensdauer an Regelungen betreffend ein überlanges Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof. Es ist daher die Frage berechtigt, welche Rechtsschutzmöglichkeiten es auf der Ebene des Verfassungsgerichtshofs gibt, wenn über eine Verfassungsbeschwerde mehrere Jahre nicht verhandelt wird. Die Garantien des Art. 6 Abs. 1 und des Art. 13 EMRK gelten grundsätzlich auch für einen Rechtstreit vor einem Verfassungsgericht, wie es z.B. das Urteil des EGMR in der Sache P. gegen DEUTSCHLAND vom 4. September 2014, Beschwerde Nr. 68919/10, belegt.

 

II.   Das Ziel des Projekts

Das Ziel der geplanten Tagung soll der Meinungsaustausch polnischer und deutscher Wissenschaftler über die aktuelle Entwicklung der Gesetzgebung und Rechtsprechung im Bereich des Rechtsschutzes bei überlanger Verfahrensdauer sein. Es geht dabei nicht um einen einfachen Wissenstransfer von einer Rechtsordnung mit umfassenden gesetzlichen Regelungen, die nicht nur die Fachgerichte (ordentliche Gerichte, Verwaltungsgerichte, Arbeitsgerichte, Sozialgerichte, Finanzgerichte) einbezieht, in eine andere Rechtsordnung, die eine eher beschränkte Lösung in diesem Bereich anbietet12, sondern um eine Untersuchung, ob eine umfassendere Regelung im positiven Recht die einzige und zwingende Form der Beseitigung der Defizite darstellt. Die Rechtsvergleichung soll hier den beiden nationalen Gesetzgebern die Wahl einer optimalen Lösung erleichtern.


Dr. Bernard Łukańko


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1Quelle - Statistik des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz - abrufbar unter:
http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statistiken/Download/Geschaeftsentwicklung_Gerichten_Staatsanwaltschaften_1999_2014.html;jsessionid=3152F7B69C1AB9F88115FA302494EB1E.1_cid324?nn=6957832
2Quelle - Statistik des Ministeriums der Justiz der Republik Polen - abrufbar unter: http://bip.ms.gov.pl/pl/dzialalnosc/statystyki/statystyki-2001/
3Quelle - Statistik des Ministeriums der Justiz der Republik Polen - abrufbar unter: http://bip.ms.gov.pl/pl/dzialalnosc/statystyki/statystyki-2010/
4Anders als im deutschen Recht, wo Ordnungswidrigkeiten verwaltungsrechtlicher Natur sind, sind Übertretungen nach polnischem Recht strafrechtlicher Natur.
5P. P. Germelmann, Das rechtliche Gehör vor Gericht im europäischen Recht, Berlin 2013, S. 88.
6Der Begriff einer „Streitigkeit in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ i S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK wird autonom und weit ausgelegt und betrifft auch einige Verfahren vor den Verwaltungsgerichten.
7Mehr zum diesem Gesetz - T. Ereciński/K. Weitz, Effektivität der Rechtschutzes vor staatlichen Gerichten in Polen, in. P. Gottwald (Hrsg.), Effektivität der Rechtschutzes vor staatlichen und privaten Gerichten, 2006.
8Vgl. z.B. Urteil vom 27. September 2007, in der Sache Kukówna und Wende gegen Polen, Beschwerde Nr. 56026/00; Urteil vom 17. Februar 2007, in der Sache Wawrzynkiewicz gegen Polen, Beschwerde Nr. 73191/01.
9Zu den Kriterien EGMR im Urteil vom 10. November 2004 in der Sache Apicella gegen Italien, Beschwerde-Nr. 64890/01. Siehe zu Polen das Urteil vom 8. Dezember 2009 in der Sache Kucharczyk gegen Polen, Beschwerde-Nr. 3464/06.
10BGBl. I S. 2302.
11Drucksache des Bundestages 17/3802, S. 16.
12Es muss ausdrücklich angemerkt werden, dass die Regelungen des polnischen Gesetzes vom 17. Juni 2004 vom deutschen Gesetzgeber im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten umfassend untersucht wurden. Vgl. BT-Drucksache 16/7655 (Anlage), S. 27ff.