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Ergebnisse

Soziologische Perspektive

Trotz erheblicher Unterschiede in den Vertragsmodellen, die beiden Plattformen nutzen, haben wir festgestellt, dass die Arbeitsorganisation und damit die Autonomiebereiche, die den Riders gewährt werden, weitgehend übereinstimmen. Zwar sind nur die selbstständigen Fahrer.innen (Deliveroo) formal berechtigt, Aufträge abzulehnen; beide Plattformen bieten den Riders aber einige Autonomie über die Zeitplanung, die Zonenwahl und die Lieferroute – auch Foodora, rechtlich ein Arbeitgeber, der im Prinzip eine größere Kontrolle über seine Fahrer.innen ausüben könnte.

Es gibt mehrere wahrscheinliche Erklärungen, warum Foodora diese Gelegenheit nicht vollumfänglich nutzt. Das Angebot von Autonomie könnte helfen, Personal zu gewinnen und zu binden. Es könnte auch zu einer insgesamt besseren Leistung führen, da die Riders ihre Ziele, mit denen der Organisationen ausgleichen können. Darüber hinaus ermöglicht die Freiheit, die Route zu wählen, das städtische Wissen der Fahrer.innen in Bezug auf Abkürzungen, Verkehr, Straßenverhältnisse zu nutzen. Vor allem im Hinblick auf die Zeit- und Schichtpläne könnte die Gewährung von Autonomie auch damit plausibel erklärt werden, dass die Unternehmen nicht im Voraus wissen, wie viele Fahrer.innen sie für eine Schicht benötigen. Da diese Zahl je nach Wettervorhersage und vielen anderen Kriterien variiert, liegt es im Interesse der Plattform, eine flexible Belegschaft zu haben.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass Plattformen dennoch spezifische App-basierte Steuerungstechniken verwenden, um das Verhalten der Fahrer.innen erheblich zu beeinflussen und damit wieder Autonomie zu beschränken.

- Erstens ermöglicht das automatische Datenerfassungssystem es den Plattformen, die Leistung der Riders in Echtzeit zu überwachen. Gibt es eine Abweichung zu dem, was die App als "normalen" Workflow ansieht, erhält der/die Fahrer.in eine automatisierte Benachrichtigung. Diese Benachrichtigungen zielen darauf ab, das Arbeitsverhalten der Fahrer.innen in eine bestimmte Richtung zu lenken.

- Zweitens sammeln beide Plattformen detaillierte Statistiken, die für die Berechnung von monatlichen Prämien verwendet werden. Sie nutzen monetäre Belohnungen, um verlässliche Anwesenheit und Schnelligkeit zu fördern.

- Drittens üben die Plattformen Kontrolle über die Beschäftigten durch einen internen statistik-basierten Wettbewerb um Schichten aus. Theoretisch können sich die Fahrer in ihrer App einloggen und die Arbeitsschichten auswählen, die am besten zu ihrem Zeitplan passen. In der Praxis hängen die Schichten, die zur Auswahl stehen, jedoch von der Gruppe ab, der sie zugeordnet wurden, eine Zuordnung, die auf ihren individuellen Statistiken basiert. Auf diese Weise können nur die "leistungsstärksten Fahrer.innen" wirklich entscheiden, wann und wo sie arbeiten. Riders in der untersten Gruppe haben z.T. nicht die Möglichkeit zu arbeiten, wann und wo sie es vorziehen, da ihre bevorzugten Schichten bereits ausgebucht sein könnten.

- Schließlich entdeckten wir, dass eine starke Informationsasymmetrie im App-basierten Management besteht. In ähnlicher Weise wie andere On-Demand-Plattformen erlaubt ihre Macht über die Gestaltung der App es den Plattformen, die Entscheidungsspielräume der Arbeitskräfte zu verengen.

Das Zusammenspiel von Autonomie und digitaler Kontrolle wird durch die Fahrer.innen ähnlich erlebt. Wir haben herausgefunden, dass das App-basierte Management die Unsicherheit und Instabilität der ohnehin prekären Gig-Arbeit verstärkt. Informationsvakuum, schlechte Kommunikation und datenbasierte Leistungssteuerung sind die drei Kernelemente der „digitalen Prekarität“. Obwohl die Fahrer.innen verschiedene Aspekte ihrer Arbeit schätzen, beurteilen die meisten Riders die Kernelemente der „digitalen Prekarität“ negativ: dem Zufall ständiger App-Updates ausgeliefert zu sein, ohne ausreichende Informationen zu erhalten oder Möglichkeiten zu haben, sich zu beschweren. Verwirrung, Unsicherheit, Frustration über Stimmlosigkeit und Missachtung waren das allgemeine Gefühl der App-Arbeiter.innen.

Im Gegenzug schüren diese Bedingungen widerständige Praktiken des kollektiven Lernens, des Spielens (gaming), des Umrahmens und der Anfechtung. Angesichts unvollständiger Informationen werden die Fahrer.innen allein gelassen, um herauszufinden, welche Spielregeln das Spiel hat. Diese Praktiken des kollektiven Lernens verstärken sich, wenn App-Änderungen eingeführt werden. Das Ergebnis des Ratespiels ist die Kreation eines kollektiven Imaginären über die algorithmische Regel. Wenn das Ziel, die Regeln aufzudecken ist, anzuzeigen, dass diese unklar oder ungerecht sind, dann kann dieses Verhalten auf jeden Fall als ein wichtiger erster Schritt zu kollektivem Widerstand betrachtet werden. Wir entdeckten auch, dass Riders Informationen darüber austauschen, wie sie die Regeln umgehen ("spielen") können.

Die Grenze zwischen individuellen und kollektiven Spielstrategien verschwimmt hier, da ein individueller Bruch der algorithmischen Regel zu kollektivem Fehlverhalten und Solidarität beitragen kann. Die gleichen Online- und Offline-kommunikativen Strukturen, die zum Kennenlernen der Regeln verwendet werden, können als Räume für kollektive Ausdrucksformen von Missständen mit der Geschäftsführung neu verwendet werden. Wenn die Unternehmen plötzliche und einseitige Änderungen des Managementregimes einführen, verstärken sich Ausdrucksformen des Widerspruchs.

Schließlich haben wir zwei Formen des offenen Widerstands identifiziert: die Unzufriedenheit direkt der Geschäftsführung mitzuteilen, und sich gewerkschaftlich zu organisieren, um die kollektiven Interessen der Riders besser zu vertreten.

Darüber hinaus ergab unsere Analyse, dass es drei Aspekte der Essenlieferungsarbeit gibt, die unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus besonders relevant dafür zu sein scheinen, wie die Fahrer.innen ihre Arbeit bewerten. Diese Aspekte sind: Zahlung, Stadtplan und Kommunikation. Um diese Probleme zu diskutieren, haben wir Prototypen potenzieller technologischer Lösungen entwickelt. Die Mock-ups waren mögliche Funktionen einer App. Während eines Workshops über „Worker-centric Design“ stellten wir diese Modelle einer Gruppe von vier Fahrer.innen vor und diskutierten mit ihnen ihr Potenzial, ihre Arbeit zu erleichtern.

Rechtliche Perspektive

Was kann uns diese sozio-technische Realität über den vertraglichen Status von selbstständigen Gig-Beschäftigten sagen? Unsere Studie hat gezeigt, dass einige Merkmale des Kontrollregimes auch gegenüber verschiedenen Vertragsmodellen konstant bleiben. Die vertraglichen Entscheidungen der Plattformen scheinen davon auszugehen, dass die Plattformen das rechtliche Modell – abhängige Beschäftigung (Arbeitsvertrag) oder Selbstständigkeit – wählen können. Eine solche Schlussfolgerung wäre höchst problematisch. Aus rechtlicher Sicht gilt es, sich nicht auf den Wortlaut des Vertrages zu konzentrieren, sondern auf die Durchführung des Vertrages zu schauen, um die rechtliche Einordnung zu bestimmen.

Dabei geht das Projekt davon aus, dass sich die Suche nach Kriterien und Indikatoren für die organisatorische Integration als weitaus nützlicher für die rechtliche Einstufung digitaler Plattformarbeit erweisen könnte als die bisher vorherrschende Suche nach Weisungsrechten.

Auf den ersten Blick sieht es zwar so aus, als ob die Arbeit der Deliveroo-Fahrer.innen (die zwar kontrolliert werden, ohne in einem engen Sinn weisungsgebunden zu sein) auch nicht den Kriterien der Integration in die Arbeitsorganisation entspricht, weil sie nicht an ein und demselben physischen Ort arbeiten und zumindest einen Teil ihrer eigenen Ausrüstung bereitstellen müssen. Deliveroo-Fahrer.innen müssen auch eine (sehr geringe) Lizenzgebühr für die Nutzung der Rider-App zahlen. Es gibt jedoch andere Indikatoren, die auf eine Integration in die Organisation hindeuten, die den Fahrer.innen gleichzeitig einen unabhängigen eigenen Zugang zu den Märkten verwehrt: Da die Plattform Informationen über die Funktionsweise der automatisierten Entscheidungssysteme und die von ihnen verwendeten Metriken zurückhält, ist den Deliveroo-Fahrer.innen eine Bewertung der Marktrisiken nicht möglich. Die Tatsache, dass den Riders das endgültige Ziel des Kunden oder der Kundin vorenthalten wird, ist nur die Spitze des Eisbergs an Informationen, über die das Unternehmen verfügt, ohne sie weiterzugeben. Eigene rationale Geschäftsentscheidungen können die Fahrer.innen nicht treffen. Eine weitere relevante Marktkontrolle und Verhaltenssteuerung gleichzeitig ergibt sich aus der automatisierten Sortierung des Schichtbuchungssystems auf der Basis personalisierter Statistiken.

Zusammenfassend kann argumentiert werden, dass die Integration in die App einer Integration in eine Arbeitsorganisation gleichkommt. Die Funktionen der App, die eine intensive Koordination und Kontrolle ermöglichen, organisieren die Arbeitsprozesse. Die Nutzung der App untergräbt somit die Voraussetzungen für eine Selbstständigkeit und deutet auf eine Integration in die Organisation der Plattform – und damit (entgegen dem äußeren vertraglichen Anschein) auf das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses – hin.

Für selbstständige Riders stellt sich auch die Frage der Tarif- und Kollektivverhandlungsfähigkeit, jedenfalls wenn man entgegen unserer Analyse nicht davon ausgeht, dass es sich rechtlich um Arbeitsverhältnisse handelt: Sind entsprechende Kollektivverträge rechtlich zulässig – oder geraten sie in Konflikt mit dem Kartellrecht? Wenn soloselbstständige Riders als arbeitnehmerähnliche Personen anzusehen sein sollten, dann eröffnet sich die Möglichkeit zum Abschluss von Tarifverträgen. Aber selbst wenn man Riders in bestimmten Konstellationen als selbstständig einordnen würde, ohne dass sie unter § 12a TVG fallen, kann der Schutzbereich der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 GG eröffnet sein.

Da häufig nicht auf Kollektivverträge abgezielt wird, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob und inwieweit Arbeitskampfmaßnahmen ohne Tarifbezug durch die Koalitionsfreiheit geschützt werden, solange sie der Wahrung und Förderung von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen. Die Rechtmäßigkeit der verschiedenen Aktionen wäre im Einzelfall zu prüfen. Rechtlicher Schutz kann sich aus den Grundrechten der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) ergeben. Diese Rechte könnten z.B. bei einer Maßregelung, d.h. Benachteiligung von protestierenden Riders helfen.

 Da die Basisgewerkschaften in Europa eine Schlüsselrolle bei den kollektiven Vertretungen von Riders gespielt haben, haben wir auch die Frage geprüft, ob eine „basisdemokratisch“ organisierte Organisation, in denen wichtige Entscheidungen unmittelbar von den betroffenen Mitgliedern selbst getroffen werden, tariffähig ist – und bejaht.

 

Wichtige Schlussfolgerungen

  • Es gibt eine große Diskrepanz zwischen den diskursiven Strategien der Plattformen und dem tatsächlichen Funktionieren ihres Verwaltungssystems.

  • Die versprochene Autonomie besteht nur, soweit Riders die von den Unternehmen festgelegten (intransparenten) Leistungsstandards erfüllen.

  • Große Mengen an gesammelten Data werden verwendet, um die Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen voranzutreiben.

  • Informationsasymmetrien verstärken Ungleichgewichte zwischen Riders und Plattform am digitalen Arbeitsplatz.

  • App-basiertes Management verstärkt Unsicherheit und Instabilität der Arbeit.

  • Die Ausnutzung von Schwachstellen im System eröffnet App-Beschäftigten neue Räume für kollektiven Widerstand.

  • Der Zugang zu Informationen ist eine neue Stätte der Auseinandersetzung und des Kampfes.

  • Plötzliche, einseitige und schlecht kommunizierte Veränderungen können kollektive Maßnahmen auslösen.

  • Die Beschäftigten der digitalen Plattformen haben kaum Einfluss auf die Arbeitsplatztechnologien.

  • Riders auf den untersuchten Essenlieferplattformen sind im Rechtssinne Arbeitnehmer.innen.